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Interviews

Vorkämpferin im Gesundheitswesen

Dr. Tatjana Binggeli ist gehörlose Medizinerin und Präsidentin des Schweizerischen Gehörlosenbundes. In beiden Rollen ist sie mit den Barrieren konfrontiert, die Gehörlosen den Zugang zum Gesundheitswesen verwehren.

Dr. Tatjana Binggeli im Interview.

Beat Holdener: Sie sind die einzige gehörlose Medizinerin mit einem Doktortitel in der Schweiz. Was hat Ihnen die Kraft für diese Ausbildung gegeben?

Dr. Tatjana Binggeli: Ich wusste, dass ich es kann und habe mich durchgebissen. Weder bei der Matura noch im Studium oder beim Doktorat hatte ich eine Sonderbehandlung. Ich musste selbst Strategien entwickeln, Dolmetscher*innen organisieren oder in der Bibliothek nachlesen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Ich wurde als ‹Behinderte› abgestempelt und musste beweisen, dass ich klug genug bin. Natürlich haben mich meine Eltern grossartig unterstützt.

Gehörlose bringen ihre Patientenakten zu mir und bitten mich, den Text in Gebärdensprache zu übersetzen.

Dr. Tatjana Binggeli

Heute leiten Sie am Inselspital das Labor für die Augenbank. Wie läuft die Zusammenarbeit mit den hörenden Kolleg*innen?

Ich habe das Glück, für einen leitenden Arzt arbeiten zu dürfen, der sich aufgrund meiner Kompetenzen für mich entschieden hat und nicht, weil ich gehörlos bin. Die Zusammenarbeit mit meinem Vorgesetzten und den Arbeitskolleg*innen ist sehr gut. Sie schätzen es, dass ich bei Unklarheiten auf sie zugehe. Und mit anderen involvierten Stellen läuft die Kommunikation per Mail oder SMS. Das funktioniert sehr gut, und einiges wurde für mich sogar neu organisiert.  

Sie hatten bei ihrer früheren Stelle auch direkten Patientenkontakt. Wie war das?
Meine Art zu kommunizieren wurde sehr geschätzt. Ich habe mich mit den Patient*innen auf Augenhöhe unterhalten. Besonders ältere Menschen schätzen Augenkontakt, weil man ihnen dann wirklich zuschaut und zuhört. Und mit Lippenlesen habe ich auch hörende Patient*innen verstanden, die nicht mehr sprechen konnten.

Weil es wenig gehörloses Medizinpersonal gibt, ist der Zugang zum Gesundheitswesen für Hörbehinderte sehr schwierig. Wie erreichen wir, dass vermehrt Gehörlose in diesem Gebiet arbeiten?

Das Problem fängt schon beim Bildungssystem an. Das muss barrierefrei werden und auf die Bedürfnisse der Gehörlosen zugschnitten sein. Wenn die Basis vorhanden ist, öffnen sich Türen für Studien aller Art. Aber leider treten wir an Ort.  

Oft fehlen Gehörlosen auch Informationen zum Thema Gesundheit …

Information ist wirklich ein grosses Bedürfnis. Ich erlebe das, wenn ich Vorträge in Gebärdensprache halte. Ich werde von Gehörlosen und ihren Fragen fast überrannt. Viele nehmen eigene Patientenakten mit und bitten mich, für sie den Text in Gebärdensprache zu übersetzen, weil die Kommunikation mit dem Arzt nicht immer klar ist.

Wie kann das hörende Medizinpersonal diese Kommunikation verbessern?

Zumindest brauchen alle – vom Chefarzt bis zum Pflegepersonal – ein Grundwissen, wie man mit Gehörlosen oder generell mit Menschen mit Behinderungen umgeht. Schon in der Ausbildung sollten diese Kenntnisse vermittelt werden, und Interessierte sollten die Möglichkeit haben, Gebärdensprache zu lernen. In der Schweiz ist man sich zu wenig bewusst, welche Probleme Gehörlose haben und wie sich diese auf das Wohlbefinden auswirken.

Dr. Tatjana Binggeli hat Zahnmedizin, Biomedizin, medizinische Infektionsbiologie und wissenschaftliche Medizin studiert. Heute arbeitet sie im Berner Inselspital und leitet das Labor für die Augenbank (Hornhaut-Transplantation und Amnion-Transplantation).

Seit 2012 engagiert sich Tatjana Binggeli im Vorstand des Schweizerischen Gehörlosenbundes SGB-FSS, seit 2017 als Präsidentin. Zudem vertritt sie die Anliegen der Gehörlosen im Vorstand der Dachorganisation Inclusion Handicap.

Publiziert am 23. März 2021