Sprache

Ganz Ohr

Zusammen anders: Gehörlose Eltern mit hörenden Kindern

Rund 90% der Kinder gehörloser Eltern sind hörend – eine Tatsache, die betroffene Familien immer wieder vor Herausforderungen stellt. Auch Carmela und ihr Partner Kelvin, beide gehörlos, mussten nach der Geburt ihrer beiden hörenden Söhne komplett umdenken. Bei einem Hausbesuch gewähren sie uns einen Einblick in ihre Gefühlswelt und den nicht immer einfachen Alltag.

Carmela und Kelvin mit ihren hörenden Söhnen Xeon und Xian

Eine Achterbahn der Gefühle

«Beim ersten Kind haben wir es gleich dreimal ärztlich überprüfen lassen», erzählt Carmela, so überrascht waren sie, dass ihr erster Sohn Xeon hören konnte – besonders, da Gehörlosigkeit in beiden Familien seit Generationen verbreitet ist. Die Zeit nach der Geburt erlebten die beiden als emotionale Achterbahn: Neben der grossen Freude über ihr erstes Kind mischten sich auch Sorgen und Ängste. «Wir mussten unser Denken völlig ändern. Wir leben in der Welt der Gehörlosen, und plötzlich wurde uns klar, dass unser Kind in einer anderen Welt aufwachsen wird.»

Herausforderungen im Alltag

Mit hörenden Kindern kamen neue Herausforderungen, welche die beiden vorher nicht kannten. Geräusche, wie das Weinen eines Babys, das Rufen eines Kindes oder laute Musik, bleiben für sie ohne technische Hilfsmittel unbemerkt.

Carmela und Kelvin mussten lernen, mit diesen Veränderungen umzugehen, und konnten dabei auf Unterstützung aus ihrem Umfeld zählen. «Wir mussten vieles neu lernen, so etwa, ob der Fernseher zu laut ist. Bei uns war er immer auf lautlos, das ging nun plötzlich nicht mehr. Oder wir kauften ein Gerät für Musik und Hörspiele. Zum Glück haben wir hörende Freunde, die uns dabei helfen, denn In der Schweiz gibt es kaum Informations- oder Unterstützungsangebote für betroffene Familien».

Carmela und Kelvin,
gehörlose Eltern von Xeon und Xian

Kindergarten – ein grosser Schritt

Mit der Einschulung von Xeon in diesem Sommer kamen neue Fragen auf die Familie zu. «Mein Sohn spricht nicht, sondern kommuniziert in Gebärdensprache», erzählt Carmela. Als Kleinkind hat Xeon beide Sprachen ansatzweise verwendet, doch – so vermutet Carmela – aus Solidarität zu seinen gehörlosen Eltern oder vielleicht einfach aus praktischen Gründen hat sich die Gebärdensprache durchgesetzt. Die ersten Jahre freuten sich Carmela und Kelvin über Xeons «Wahl», konnten sie so doch ungehindert miteinander kommunizieren. Dann aber stand der erste Kindergartentag vor der Tür. Die Eltern sorgten sich: Wird Xeon von seinen Gspändli akzeptiert? Wird die Kommunikation mit anderen Kindern und der Kindergärtnerin gelingen?

Sie zeigten sich darum initiativ, um die neue Situation für ihr Kind bestmöglich vorzubereiten. «Ich habe die Schule und die Eltern vorab informiert, indem ich auf einem Blatt Papier erklärt habe, was ein CODA-Kind ist und wie sie mit Xeon umgehen können – durch Blickkontakt und Berührung, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen.» Besonders berührt hat sie dabei die Reaktion der Kindergärtnerin von Xeon: Völlig unvoreingenommen und verständnisvoll. «Ihre Offenheit für das Unbekannte ist beispielhaft und ein Vorbild, wie Barrieren fallen, wenn die Bereitschaft da ist, etwas Neues zu entdecken.» Und auch einzelne Eltern kommen nach anfänglicher Zurückhaltung jetzt aktiv auf sie zu und stellen Fragen. Sie freut sich vor allem darüber, dass ein Kontakt entsteht zwischen hörenden und gehörlosen Menschen – eine Brücke, die zueinander führt.

Neue Perspektiven

Carmela und Kelvin erleben, wie Xeon mit seiner Einschulung Dinge erfährt, die ihnen selbst fremd sind. «Mein Sohn erlebt Situationen wie das gemeinsame Singen im Morgenkreis, die ich nicht nachvollziehen kann», sagt Carmela nachdenklich. Doch sie erkennt auch, dass Xeon durch diese Erfahrungen ein besseres und einfacheres Leben führen kann.

Mit ihrer Geschichte möchten Carmela und Kelvin auf Familien aufmerksam machen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Sie leisten damit einen wichtigen Aufklärungsbeitrag und zeigen, dass mit Offenheit, etwas Neugierde und Geduld Inklusion und Teilhabe für alle selbstverständlich werden kann.

Die ersten fünf Wochen mit Xeon waren für mich wunderschön. Er ist ein ruhiger, aber gleichzeitig sehr aufgeweckter und aufmerksamer Junge. Man spürt sofort, wie wach er seine Umgebung wahrnimmt und wie feinfühlig er reagiert.

Seine Art bringt eine besondere Ruhe in die Gruppe, und gleichzeitig überrascht er immer wieder mit kleinen, theatralischen Momenten, die unseren Alltag lebendig machen und mich oft zum Schmunzeln bringen. Man merkt, dass die hörende Welt nicht die ist, in der er aufgewachsen ist, aber genau das ist für mich eine grosse Bereicherung.

Es ist spannend, meine eigene Lebenswelt dadurch bewusster wahrzunehmen und manchmal auch zu überdenken. Ich freue mich sehr, dass ich für Xeon eine Bezugsperson in der hörenden Welt sein darf.

Xeon antwortet mir auf meine mündlichen Fragen oft in seiner Muttersprache, der Gebärdensprache. Für mich ist das ein sehr schönes Gefühl, weil ich spüre, dass er wirklich mit mir kommunizieren möchte, auch wenn es in einer Art geschieht, in der ich es nicht gewohnt bin, eine Antwort zu bekommen. Gleichzeitig spreche ich im Alltag sehr viel mit ihm, damit er möglichst viele Berührungspunkte mit der mündlichen Sprache hat und vielleicht Freude daran findet, diese Zweitsprache nach und nach für sich zu entdecken.

Es war mir besonders wichtig, mit den Eltern im Austausch zu sein und mir erklären zu lassen, wie Xeons Welt aussieht. Ich habe mir kleine Grundlagen in Gebärdensprache angeschaut und versuche bewusst, viel mit Bildern, Gestik und Ritualen zu arbeiten.

Hintergrund: CODA – Hörende Kinder gehörloser Eltern

Kinder gehörloser Eltern werden als CODA (Children of Deaf Adults) bezeichnet. Sie wachsen mit zwei Sprachen und Kulturen auf: der Gehörlosenkultur und der Welt der Hörenden. Dieser einzigartige Hintergrund ist ein grosser Gewinn, denn die Kinder entwickeln eine besondere Fähigkeit, zwischen verschiedenen Kommunikationsformen und Lebensrealitäten zu wechseln. Gleichzeitig bringt die Situation aber auch Herausforderungen mit sich – für Kinder wie Eltern.

Insbesondere die Rolle der Eltern findet zu wenig Aufmerksamkeit, obwohl besonders sie ein tiefes Gefühl der Isolation empfinden und darunter leiden, dass es kaum gehörlosengerechte Informationen zum Thema «Kindererziehung» gibt. Der Schweizerische Gehörlosenbund hat dieses Manko erkannt und möchte sich dem Thema verstärkt annehmen, was u. a. mit der Publikation des vorliegenden Magazins umgesetzt wird.

Gehörlose Menschen mit hörenden Kindern sind auf unsere Unterstützung angewiesen!

Herzlichen Dank für Ihre Spende!

Publiziert am 12. November 2025