«Du bist nicht allein»: Das Nottelefon 147 wird barrierefrei
Psychische Krisen machen vor keiner Sprache und keiner Hörfähigkeit halt. Pro Juventute reagiert auf die zunehmenden seelischen Belastungen junger Menschen in der Schweiz – und öffnet das Nottelefon 147 jetzt auch für gehörlose Jugendliche. Im Interview spricht die Organisation über steigende Suizidzahlen, neue digitale Beratungswege und darüber, wie Angehörige helfen können, wenn jemand nicht mehr weiter weiss. Eine Botschaft zieht sich dabei durch alles: Hilfe holen ist Mut, nicht Schwäche.
Schweizerischer Gehörlosenbund: Die Zahl der Suizide in der Schweiz ist auch 2024 wieder gestiegen. Was macht das mit Ihnen – als Organisation, die tagtäglich mit Menschen in seelischen Krisen spricht?
Pro Juventute: Diese Entwicklung erfüllt Pro Juventute mit grosser Sorge. Wir erleben täglich, wie stark Kinder und Jugendliche psychisch belastet sind – beim 147 hat sich der Beratungsaufwand in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Während es vor der Covid-Pandemie 3 bis 4 Beratungsanfragen von Kindern und Jugendlichen pro Tag zu Suizidgedanken gab, sind es heute rund 13. Die Gründe sind vielfältig: Krisen, Leistungsdruck und Unsicherheiten – und eine akute psychotherapeutische Versorgungskrise, die dringend entschärft werden muss.
Schweizerischer Gehörlosenbund: Ihr Angebot ist schriftlich via Mail oder neu auch via WhatsApp erreichbar. Was hat Sie dazu bewegt, das schriftliche Angebot auszubauen?
Pro Juventute: Wir wollen Kinder und Jugendliche dort erreichen, wo sie sich aufhalten – und das ist zunehmend digital, insbesondere auf Plattformen wie WhatsApp. Viele junge Menschen empfinden es als einfacher, sich zunächst schriftlich mitzuteilen, gerade bei sensiblen Themen. Die Hemmschwelle ist niedriger, und das gibt uns die Chance, frühzeitig zu unterstützen. Die Stärkung der Barrierefreiheit ist ebenfalls ein positiver Nebeneffekt.
Der Schweizerische Gehörlosenbund SGB-FSS unterstützt den Ausbau des Angebots vom Nottelefon 147 und empfiehlt gehörlosen Menschen sich im Bedarfsfall via WhatsApp an das Nottelefon 147 zu wenden. Auf der Website sind auch zusätzliche Informationen und Tipps zu finden.

Schweizerischer Gehörlosenbund: Wie kann ein Umfeld erkennen, dass jemand in einer akuten seelischen Notlage ist, und wie kann man unterstützend eingreifen?
Pro Juventute: Warnsignale können sein: Rückzug, Hoffnungslosigkeit, starke Stimmungsschwankungen oder das Ausdrücken von Suizidgedanken. Wichtig ist, solche Anzeichen ernst zu nehmen, das Gespräch zu suchen, zuhören und dem Jugendlichen zu spiegeln, wie man ihn oder sie wahrnimmt. Man muss keine sofortigen Lösungen bieten, aber man kann signalisieren: „Du bist nicht allein und ich bin für dich da.“ In akuten Situationen sollte man nicht zögern, professionelle Hilfe beizuziehen – etwa durch das 147 oder eine Fachstelle.
Schweizerischer Gehörlosenbund: Wie gehen Sie und das Team beim Thema Suizid mit Schuldfragen um?
Pro Juventute: In der Begleitung junger Menschen ist es wichtig, frühzeitig zu unterstützen – aber wir wissen: Nicht alles liegt in unserer Hand. Suizid ist oft das Ergebnis einer komplexen seelischen Notlage, nicht die Schuld Einzelner. Es ist zentral, dass Angehörige nicht in Schuldgefühlen stecken bleiben, sondern Raum für Trauer und professionelle Begleitung erhalten.
Schweizerischer Gehörlosenbund: Was möchten Sie gehörlosen Menschen in der Schweiz mit auf den Weg geben, die sich gerade sehr allein fühlen – und vielleicht glauben, niemand verstehe sie?
Pro Juventute: Es gibt Menschen, die euch sehen und verstehen – auch wenn es sich im Moment nicht so anfühlt. Ihr habt ein Recht auf Unterstützung und auf Wege, euch mitzuteilen – auch in Gebärdensprache oder auf barrierefreien Kanälen. Isolation verstärkt die Not. Der erste Schritt ist, sich jemandem anzuvertrauen, dem ihr vertraut. Hilfe zu suchen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck von Mut.
Das Nottelefon 147 ist neben Mail neu auch via WhatsApp erreichbar (an 365 Tagen jeweils von 07.30 Uhr bis 22.00 Uhr).
Publiziert am 27. Mai 2025